Ist ein Huhn ein Nahrungsmittel?

LG Flensburg vom 1.4.1956 (Az. 12 Qs 40/56)
(Fundstelle: MDR 1956, 374)

 

Tatbestand

Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen einen Mann erhoben, der aus dem Hühnerstall seines Nachbarn innerhalb von einigen Wochen insgesamt drei Legehennen gestohlen hatte. Die Henne aus dem ersten Diebstahl aß er kurz danach allein; die beiden anderen, später entwendeten Hühner legte er gerupft in einen Kochtopf, wo sie von der Polizei gefunden wurden.

Die Staatsanwaltschaft sah dadurch den Straftatbestand des Einbruchdiebstahls verwirklicht. Das Gericht hat die Anklage aber nicht zur Hauptverhandlung zugelassen. Es sah lediglich den Straftatbestand des Mundraubs erfüllt, für den ein Strafantrag vorliegen mußte, an dem es im konkreten Fall jedoch mangelte.

Anmerkung zur Rechtslage im Jahre 1956

Der Tatbestand des „Mundraubs“ ist im Zuge der Strafrechtsreform von 1976 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen und durch den Tatbestand des „Diebstahls einer geringwertigen Sache“ ersetzt worden. In beiden Fällen wird die Tat nur auf Antrag verfolgt; liegt ein solcher Antrag nicht vor, ist das Verfahren gegen den Beschuldigten einzustellen.

Das Gericht mußte also prüfen, ob ein Huhn ein Nahrungsmittel ist.

 

Aus den Entscheidungsgründen

Nahrungsmittel sind zur Ernährung der Menschen dienende Sachen. Nach der Verkehrssitte hat jedes Huhn gleichzeitig mehrere Verwendungszwecke. Hühner werden gehalten – wie der geniale Beobachter des Volkslebens, Wilhelm Busch, es formuliert -,

„einesteils der Eier wegen,
welche diese Vögel legen,
zweitens, weil man dann und wann
einen Braten essen kann,
drittens aber nimmt man auch
ihre Federn zum Gebrauch“.

Seit mehr als tausend Jahren werden auf der ganzen bewohnten Erde Hühner für alle drei Zwecke zugleich gehalten und allgemein als Volksnahrungsmittel angesehen, wobei allerdings die Verwendung für den ersten Zweck, für das Eierlegen, nur möglich ist, solange die Verwendung für die weiteren Zwecke noch nicht erfolgt ist.

Man kann daraus aber nicht umgekehrt schließen, daß ihre Verwendung für die weiteren Zwecke erst dann in Betracht komme, wenn sie für den ersten Zweck ausgedient hätten und wegen Alters dafür nicht mehr verwandt werden könnten. Wenn König Heinrich IV. von Frankreich, Heinrich von Navarra, der „gute König“, wie in allen französischen und deutschen Schulbüchern zu lesen ist, um 1600 zum Herzog von Svoyen gesagt hat: „Ich wünsche, daß sonntags jeder Bauer sein Huhn im Topf hat“, so hat er dabei sicher nicht nur an ein altes Suppenhuhn gedacht.

Auch bei den Brathend’l auf der Oktoberwies’n, beim Hamburger Küken, beim üblichen Kükenbraten, der Hühnersuppe sonntags, bei Beerdigungen, bei „Besuch“ und anderen festlichen Gelegenheiten auf dem Lande werden keineswegs nur die alten abgängigen Hühner oder nur Hähne gegessen. Werden Hühner jeden Alters in der Volksanschauung zwar allgemein als Nahrungsmittel angesehen, so verbraucht man andererseits, solange die Hühner nicht diesem Zweck zugeführt sind, selbstverständlich auch die anfallenden Eier. Deshalb sind alle weiblichen Hühner zunächst auch Legehühner.

Selbst wenn sie im Einzelfall hauptsächlich zur Eiergewinnung gehalten werden, liegt darin deshalb keine die rechtliche Natur der Sache abändernde Zweckbestimmung durch den Eigentümer, wie sie eventuell bei der Haltung von Rassehühnern ausschließlich zu Zuchtzwecken in Betracht kommen könnte. Ein Legehuhn sieht nicht anders aus als andere Hühner. Die Eigenschaft als Nahrungsmittel kann daher bei Legehühnern nicht verneint werden.

Die Ansicht [der Staatsanwaltschaft], daß der Angeschuldigte mit seiner Frau zusammen zu einer Mahlzeit nicht mehr als ein Huhn verzehren konnte, das zweite Huhn daher der Vorratsbildung diene, wird von der Kammer nicht geteilt. Wohl fast jeder weiß seit seiner Kindheit, daß Wilhelm Busch den beiden Buben Max und Moritz zutraut, zu zweit drei Hühner und einen Hahn zu einer Mahlzeit aufzuessen.

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